Dann definiere doch mal bitte gesund. Da bin ich nun aber sehr gespannt!
Eine Definition im Sinne von "allgemeingültig" kann ich mir freilich nicht anmaßen. Aber unter "gesund" verstehe ich Angebote, die den Hörern helfen, die Fähigkeiten zu entwickeln, um mit der dafür nötigen Ernsthaftigkeit und Verantwortung zur Entwicklung ihrer selbst und der Gesellschaft beitragen zu können im Sinne eines Weges, der zur Wahrung bzw. Vervollkommnung von Humanismus, Gewaltfreiheit, Freiheit, Gleichwertigkeit jedes Menschen führt, der zum Bewußtsein unseres "Gast-Status'" auf diesem Planeten führt, der zum Bewußtsein unserer Verantwortung für die Bewahrung dieses Planeten und der auf ihm lebenden Wesenheiten führt.
Natürlich kann das der Rundfunk nicht ausschließlich leisten, er ist nur eine von vielen Einrichtungen, die dazu beitragen müssen. Und natürlich kann der Rundfunk nicht nur aus "schwerem Stoff" bestehen und soll es auch gar nicht. Die Vermittelung solcher Werte ist auch gar nicht an eine "Schwere" gebunden. Vieles ist eigentlich im wahrsten Sinne des Wortes kinderleicht.
Dazu gehört u.a. auch, eine möglichst umfassende geistig-kulturelle Entwicklung zu ermöglichen. Dazu gehört, einen umfassenden Überblick und tiefere Einblicke in das Weltgeschehen anzubieten, der über einsdreißig-Kurznachrichten hinausgeht. Dazu gehört, ernsthafte Themen auch ernsthaft zu behandeln und nicht zu "verdödeln". Dazu gehört bei einem Jugendprogramm für mich auch ein umfassender Überblick über Jugendkultur. Die ist nicht bei Charthits zuende, die ist auch nicht zuende, wenn man noch ein oder zwei spezielle Subkulturen mit dazunimmt. Und damit hat man eine Alters-Untergrenze, die vermutlich irgendwo bei 16 liegt.
Ich bezweifele, daß Interviews mit Szenegrößen (die außerhalb der Szene niemand kennt), in denen abgefragt wird, ob Bremen oder doch vielleicht London cooler ist und wo man heute abend auflegt, dazu ausreichend sind.
Wenn ich mir anhöre, was damals Jugendradio DT64 an Programm abgeliefert hat, sind wir um Welten davon entfernt. Aber ich bezweifele, dass ein solches Programm heute tatsächlich junge Hörer finden würde. Es wäre interessant, ob viele das Programm damals nur mangels Alternativen gehört haben oder ob sie tatsächlich an den Inhalten abseits der "normalen" Tages-Musikrotation interessiert waren.
Auf die schnelle finde ich nur wenige Zahlen dazu. Deshalb zuerst das, was mir aus meinem Umfeld um 1987-1989 herum, also noch tiefste DDR-Zeit, in Erinnerung ist: DT64 wurde fast nirgendwo gehört bei den 13-15-jährigen in meinem Umfeld. Nur paar Musikfreaks nutzten die Mitschnittsendungen, in denen es bekanntlich teils ganze LP-Seiten am Stück gab. Wenn da mal Depeche Mode, Roxette oder für die ganz "harten" New Order lief, waren schon paar mehr Leute am Recorder. Ansonsten lief RIAS 2, in Ostthüringen gut zu empfangen. Mit wenig(er) Wort, mit mehr West-Hits, ohne (von uns oft als peinlich empfundene) Ostmusik. Und: alleine das Hören von RIAS 2 war ja letztlich Protest (sowas von ganz verwegener Protest...) gegen die DDR. Ich kanns im heutigen Rückblick nur als Protest gegen eine empfundene Bevormundung ("DT64 ist euer Sender") betrachten.
Dann kam der Mauerfall, das Ende der DDR und wir waren nun 15-17. Zum einen stieg dadurch die Bereitschaft, uns auch mit journalistischen Inhalten zu befassen (freiwillig, denn gesellschaftlich erwartet wurde es ja nun nicht mehr), zum anderen wurde DT64 nun plötzlich selbst zum "Protestsender". Bis auf wenige Ausnahmen war DT64 der Sender, den meine Mitschüler 1990-91 hörten. Die Ausnahmen waren letztlich musikkulturell absolut desinteressierte Leute, die nur Chartshits und nichts davon abweichendes hören wollten und diejenigen, die versuchten, sich so "westlich" wie möglich zu geben oder sich nicht als "links" verstanden. Die griffen weiterhin auf Chartspop von West-Popwellen zurück.
Ich hatte inzwischen aber auch die Schule gewechselt und war an einem Gymnasium mit Internat, in dem sowieso seit ca. 1989/90 der Punk regierte. In der legendären Schuldisco liefen Slime, Normahl, die Skeptiker, Feeling B, Die Art und wenns kuschelig werden sollte Ton Steine Scherben - neben etwas, was man heute als "Classic Rock" bezeichnen würde (Gary Moore, Def Leppard, Midnight Oil, 1990 eben...). Der "Baader-Meinhof-Komplex" wurde in der Parallelklasse herumgereicht (bei 16-jährigen), bis das Buch auseinanderfiel. Welchen Radiosender hätte dieses Publikum denn sonst hören sollen, wenn nicht DT64?
1991 engagierte man sich teils für DT64, 1992 versuchte man teils noch Sputnik zu hören und gab es dann auf, weils nicht mehr zu ertragen war. Heute hören diejenigen, zu denen ich noch Kontakt habe, meist gar kein Radio mehr, gehen aber teils noch auf Indie-Konzerte der damals schon bekannten und heute noch existierenden Ost-Indie-Bands. Da sind dann 43-jährige, deren Kinder bereits fast erwachsen sind, beim Die-Art-Konzert oder bei den Skeptikern. Politisch sind wenige teils noch aktiv, einer meiner Schulfreunde (promovierter Physiker, verheiratet, 2 fast erwachsene Töchter, Geschäftsführer eines kleinen Hightech-Unternehmens) ist z.B. jahrelang konsequent bei den Castor-Gegnern dabeigewesen und hat sich an Gleise gekettet.
Offizielle Zahlen finden sich im Buch zum Jugendradio von Wagner / Ulrich. Demnach soll die Senderwahl von Jugendlichen in der DDR 1989 so gewesen sein:
DDR 1 - 9%
DDR 2 - 1%
Berliner Rundfunk - 6%
Stimme der DDR - 4%
DT64 - 26%
Regionalsender (DDR 2) - 9%
"andere Sender" - 36%
keine Sendernennung - 9%
Die Zahlen sind freilich mit Vorsicht zu genießen. Eine Nennung von Westsendern hätte zumindest bei nicht anonymer Stimmabgabe zu Problemen bei der weiteren persönlichen Entwicklung führen können (wobei das 1989 schon nicht mehr so krass war vie noch Jahre zuvor). "DT64" kann damit auch eine "Standard-Antwort" gewesen sein.
In Ostberlin soll RIAS 2 doch kurz vor der Wende über 30% gehabt haben, ich finde die Quelle aber gerade nicht. Und das war nur RIAS 2, es gab ja auch noch den SFB. In Westthüringen gab es NDR 2, hr 3 und Bayern 3. In Südthüringen gab es Bayern 3 und Antenne Bayern. In Ostthüringen gingen Bayern 3, RIAS 2, Antenne Bayern, teils auch NDR 2 gut. Konkurrenz gab es genug, außer in manchen sächsischen Tälern.
1992 gab Infas Umfrageergebnisse bekannt (Erhebungszeitraum kenne ich nicht), wonach DT64 nur noch 3% regelmäßige Hörer habe und 8%, die das Programm häufiger hören. Das sind Kulturradio-Quoten...
Mich würde ebenso interessieren, ob heute die jungen Leute zwischen 12 und 22 überhaupt an echten Inhalten interessiert sind.
Spannend, aber kaum zu klären. In den Jahren zwischen 12 und 22 passiert ja auch so viel wie später in 50 Jahren nicht mehr. In meiner Jugend-Zeit waren wir ja sehr zeitig politisch "sensibilisiert" in der DDR. Wie unpolitisch Kinder mit 12 oder 14 heute sind, kann ich nur mutmaßen. Es scheint inzwischen zumindest im Osten zu einer neuen Politisierung zu kommen, aber die bitte nur bei stabilem Magen durchlesen:
http://www.zeit.de/zeit-magazin/201...luechtlinge-thueringen-gymnasium-gera-theater
Nicht alle Jugendlichen mögen Alligatoah
Mir wurde im Alter von 40 in der Küche eines Jugendübernachtungshauses in Altötting Alligatoah mit "
Willst du mit mir Drogen nehmen" vorgesetzt und ich fand das ganz große Klasse, da so herrlich bitterböse und mit nem wunderbaren Wortspiel. Wenns doch nur alle verstehen würden.
Kann mir aber kaum vorstellen, daß die Weser-Region komplett aus Hip-Hoppern, Rappern und Lifestyle-Gangstern mit dicker Hose besteht. Was ist mit den anderen Jugendkulturen? Oder wissen die, daß man Sonntag 0:05 auf NDR Info bei Paul Baskerville den meist melodiöseren Teil der Indie-Szene bekommen kann?